Montag, 24. September 2007

"Warum Amerikas Grippe so ansteckend ist"

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Warum Amerikas Grippe so ansteckend ist

Die Deutsche Bank leidet, in England plündern Kunden ihre Konten, und sogar Kasachstan spürt Auswirkungen: Die US-Kreditkrise belastet Volkswirtschaften weltweit. Warum sich die Schockwelle so rasch ausbreiten konnte - und ob die jüngste Zinssenkung ausreicht, erklärt der Ökonom Willi Semmler.

New York - Die Börse antwortete rasch und deutlich. Kaum hatte die US-Notenbank ihre kurzfristige Zinsrate am Dienstag vergangener Woche auf 4,75 Prozentpunkte gesenkt, schnellte der Dow-Jones-Index aufwärts. Ein Plus von über 300 Punkten - an den Kurstafeln wurde die Freude der Händler über den kräftigen Zinsschritt unmittelbar sichtbar.

Hinweis auf Hauspfändung (in der US-Stadt Denver):
Ist die Dynamik Richtung Rezession noch zu stoppen?

Der Eingriff der Federal Reserve hat die Aktienmärkte vorläufig beruhigt. Aber weist er auch den Weg aus der Hypotheken- und Kreditkrise, unter der Amerika seit dem Frühsommer leidet?

Die Erleichterung dürfte nicht allzu lange anhalten. Mittelfristig, prophezeien Ex-Notenbankchef Alan Greenspan und andere, wird die US-Börse wohl in eine neue Phase der Volatilität, der Turbulenz eintreten. Allein die Tatsache, dass sich die Fed zu einer so unerwartet drastischen Zinssenkung veranlasst sah, deutet darauf hin, dass die Lage ernster ist als gedacht. Manche Beobachter sprachen von einer "Fed-Panik".

Wie konnte sich die Krise so rasch und global ausbreiten?

Die aktuelle Finanzkrise entsprang zwar auf dem US-Markt für Grundstücke und Häuser, strahlte aber auf andere Sektoren und in ferne Regionen aus.

Einige amerikanische Hedgefonds verloren das Gros ihres Wertes, zwei deutsche Banken gerieten in Liquiditätsnöte. In Großbritannien, wo die Einlagen der Sparer nur zu einem geringen Umfang abgesichert sind, zeichnete sich zum ersten Mal seit 1866 ein Bank-Run ab: Sparer leerten ihre Konten bei Northern Rock und entzogen der Hypothekenbank Milliarden-Pfund-Werte. Sogar in Kasachstan und Indonesien waren Auswirkungen zu spüren.

Was lief schief und warum eskalierte die Kreditkrise so schnell?
Sicherlich hat ihr rasches Um-sich-Greifen zum einen mit den gewachsenen Möglichkeiten der Informationstechnologie zu tun. Diese erleichtert Finanzmarktakteuren die Investition auf ausländischen Märkten - oftmals aber fehlt ihnen ein adäquates Verständnis für die Risiken, die sie auf Fremdmärkten eingehen.

Zum anderen hängt die internationale Krisen-Ausbreitung mit der Liberalisierung der Finanzmärkte zusammen. Zumal in Schwellenländern Kapitalmärkte überstürzt dereguliert wurden, ohne dass eine starke Bilanzaufsicht, andere Aufsichts- und Regulierungsstellen und Transparenzregeln geschaffen wurden, die ein Minimum an Stabilität garantieren. Die Flucht in sichere Anlagemöglichkeiten ist dann schon programmiert, selbst bei dem Eintreten mittlerer Schocks in fernen Ländern. Die asiatische Krise der Jahre 1997/98 hätte hier als warnendes Beispiel dienen können - die Lehren wurden aber nicht gezogen.

Selbst in entwickelten Finanzmärkten wie denen der USA und Westeuropas bleibt die Aufsicht über Finanzmarktinnovationen hinter dem Wünschenswerten zurück. Dies gilt auch für den Markt mit hypothekenbesicherten Wertpapieren (mortgage-backed securities, MBOs) und anderen forderungsbesicherten Schuldpapieren (collateralized debt obligations, CDOs), der erst in den neunziger Jahren größere Bedeutung für die Finanzmarktpraxis erlangte. Dies gilt aber auch für den Bankensektor.

Nach Ansicht der Federal Reserve wurde der zurückliegende Kreditboom durch solche Finanzmarktinnovationen ausgelöst - diese Sichtweise trugen der derzeitige Fed-Chef Ben Bernanke und sein Co-Direktor Frederic Mishkin bei ihrer jüngsten Tagung in Jackson Hole vor.

Wieso hat die Krise so viele Finanzprofis kalt erwischt?

Hätten die Finanzmarktakteure die Erkenntnisse Hyman Minskys beherzigt, wären sie während des zurückliegenden Kreditbooms womöglich umsichtiger ans Werk gegangen. Minsky, vor elf Jahren im US-Bundesstaat New York verstorben, war ein keynesianisch orientierter Wirtschaftswissenschaftler, der bereits Mitte der sechziger Jahre eine Theorie der Finanzmarktinstabilität entwarf. Seine Kernthese: Es sind gerade die Phasen der scheinbaren Stabilität, die Instabilitäten hervorrufen.

Minsky erkannte, dass Finanzmärkte auf Grund psychologischer Faktoren, irrationaler Entscheidungen und mangelnder Transparenz zwangsläufig in Phasen der kollektiven Übertreibung eintreten, in denen sich die Risikowahrnehmung vermindert und unhaltbare spekulative Blasen entstehen. Von Finanzmarktpraktikern werden seine Theorien oft bestätigt - sie passten aber lange nicht in den Mainstream volkswirtschaftlichen Denkens in den USA, der von der Effizienz und dem fast makellosen Funktionieren der Märkte ausging.

Im Verlauf eines Booms, so Minsky, steigen zunächst die Finanzmarktwerte, womit - scheinbar - auch die Bonität potentieller Schuldner zunimmt. Die Gewinnhoffnungen klettern, die realistische Wahrnehmung von Risiken leidet. Banken und Finanzhäuser intensivieren ihre Kreditvergabe, weil sie selbst problemlos an Kredite herankommen.

Der "irrationale Überschwang" führt zu einem Übergang von der rein spekulativen zur "Ponzi-Finanzierung" - spätestens ab diesem Punkt entsteht bedrohliche Instabilität.

Der Begriff ponzi scheme, von Minsky in den Sprachgebrauch eingeführt, geht auf den betrügerischen Finanzier Charles Ponzi zurück. Er schuf Anfang der zwanziger Jahre in Boston ein Schneeballsystem und prellte gutgläubige Anleger, während er alte Kredite mit neuen Darlehensaufnahmen zurückbezahlte. Auch der Aktienmarkt wird von solchen spekulativen Krediten angeheizt - bei den ersten Anzeichen einer Kreditkrise werden sofort auch die Kurse erfasst.

Kein Zufall ist, dass die gegenwärtige Krise vom Immobiliensektor ausging. Zum einen hat die bisher hohe Liquidität im Markt zu einem markanten Anstieg der Häuser- und Grundstückspreise geführt - diese trügerischen "Sicherheiten" heizten die Schuldenaufnahme an, die amerikanische Kreditmaschine funktionierte. Zum anderen wurden durch den Weiterverkauf von Immobilienkrediten in Form von hypothekenbesicherten Wertpapieren die Risiken der Schuldenaufnahme breit gestreut. Hedgefonds und Großbanken waren dabei stark involviert.

Die aktuelle Kreditkrise verlief daher in - bisher - zwei Akten. Ihren Ursprung nahm sie ihm Geschäft mit subprime-Hypotheken, also mit Immobiliendarlehen an Kunden unsicherer Bonität. Viele Haushalte mit geringem Jahreseinkommen wurden auf oft undurchsichtige Weise in solche Verträge hineingelockt.

Spätestens nach der De-facto-Insolvenz zweier Hedgefonds der Investmentbank Bear Stearns, die in diesem Bereich spekulierten, sank auch bei anderen Finanzgeschäften die Bereitschaft der Banken zum Risiko. Die Geldhäuser vergaben weniger Kredite, sowohl an Kunden als auch unter sich, oder riefen gar Kredite zurück. Die Krise tangiert seitdem ganz neue Bereiche - Firmenanleihen, Überziehungskredite von Privathaushalten und sogar Anleihen für die Finanzierung des Universitätsstudiums (college loans). Die Frage lautet nun, ob ein Übergreifen der Kredit- und Bankenkrise auf die Realseite der Wirtschaft verhindert werden kann.

Wie geht es weiter?
Ist die Dynamik der Rezession in den USA noch zu stoppen? Auch nach der jüngsten Zinssenkung bleiben viele Beobachter pessimistisch. Die Folgen der Finanzkrise sind in der Realwirtschaft bereits spürbar. Die Zahl der Beschäftigten ist zuletzt schon geringfügig gesunken. Die Preise für Häuser mittlerer Größe werden in diesem Jahr im Vergleich zum Vorjahr, um 7,5 Prozent fallen, der Bestand an unverkauften Häusern nimmt stark zu, die Zahl der Neubauten und Renovierungen ab.

Vieles hängt nun davon ab, wie sich das Verbrauchervertrauen in der Konsumnation USA entwickelt. Die Zinsminderung bringt verschuldeten Haushalten immerhin eine gewisse Entlastung. Bei einem Immobilienkredit von 250.000 Dollar führt sie zu 120 Dollar Ersparnis pro Monat. Jedoch wirken Zinsschritte der Fed erst dann auf die Nachfrage, wenn auch die langfristigen Zinsen sinken. Man rechnet mit Verzögerungen von einem halben Jahr oder mehr, bevor Zinssenkungen wirksam werden.

Für viele Schuldner ist das zu spät. Die Zahl der Liegenschaftspfändungen in den USA ist nach Berechnungen des Datendienstes RealtyTrac im August 2007 auf erstaunliche 244.000 geklettert - das entspricht einem Anstieg um 36 Prozent zum Vormonat und um 115 Prozent zum Vorjahreszeitraum. In den kommenden Monaten droht auch eine Welle von verschuldungsbedingten Insolvenzen bei Firmen. Sowohl die Fed als auch der Kongress und die Regierung werden sich demnächst nicht nur mit den Auswirkungen der Zinsänderung beschäftigen müssen - sondern auch mit weiterreichenden Regulierungen und einer wirkungsfähigeren Aufsicht über Finanzmarktinstitutionen.

Zum Glück bleibt die Konjunktur in Wachstumsnationen wie China und Indien einstweilen robust. Allerdings scheint der Fed-Zinsentscheid den Dollar-Abfluss aus den USA zu beschleunigen und damit einen weiteren Kursverfall des Greenback zu begünstigen. Das verleitet weitere Investoren dazu, Dollaranlagen zu verkaufen - der Trend verstärkt sich selbst. Auch für Exportnationen wie Deutschland, denen an einer robusten US-Konjunktur gelegen sein muss, sind das keine erfreulichen Aussichten.

Die Stimmen mehren sich, wonach die starke Euro-Aufwertung zu einer Rezession auch in Europa beitragen könnte.