Montag, 1. Oktober 2007

Inflation: "Gefühlte Inflation erreicht Schmerzgrenze"

Gefunden bei der Berliner Morgenpost:

Gefühlte Inflation erreicht Schmerzgrenze
Exklusive Berechnungen für die Morgenpost: Preissteigerungen in Deutschland sind höher als angenommen
Von Inga Michler



Berlin - Manchmal sehnt sich Stefan Kaczor nach der D-Mark zurück. "Niemand hätte damals 400 Mark für eine Lego-Ritterburg verlangt", sagt der Vater von fünf Kindern. 199 Euro sollte der Herzenswunsch seines zweitältesten Sohnes kosten. Das war zu viel für den gelernten Maurer, der derzeit als Fahrer einer Spedition arbeitet und sein Gehalt mit Hartz-IV-Bezügen aufstockt. Der Kleine bekam eine Billigvariante zum Geburtstag, und Kaczor ist noch immer wütend: "Die Preissteigerungen der letzten Jahre sind einfach kriminell."

Diesen Eindruck teilen viele in Deutschland. Ob Milch oder Käse, Butter oder Brot, Strom oder Diesel, seit Monaten wird alles teurer. Auch die Bahn hat angekündigt, dass sie die Fahrpreise in diesem Jahr ein zweites Mal erhöhen wird. Und ein wenig schien es so, als müsse Bahn-Chef Hartmut Mehdorn als Blitzableiter herhalten für all die aufgestaute Wut. Für das schlechte Bauchgefühl, das viele Menschen seit Monaten haben.

Dass sie durchaus richtig lagen, zeigen zwei Untersuchungen, die der Berliner Morgenpost exklusiv vorliegen. Der Statistiker Hans Wolfgang Brachinger hat einen Index berechnet, der misst, wie stark die Menschen bei ihren täglichen Einkäufen die Inflation spüren. Ergebnis: Zwischen April 2006 und August 2007 lag die Teuerung mit 3,94 Prozent etwa doppelt so hoch wie die offiziellen Inflationszahlen. Und eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zeigt, wie viel ihres Einkommens Hartz-IV-Empfänger, allen Gegenreden der Politiker zum Trotz, in den vergangenen drei Jahren durch die Teuerung eingebüßt haben.

Auch Währungshüter werden nervös
Erst in dieser Woche hat der Ärger der Leute erstmals auch Niederschlag in den offiziellen Zahlen gefunden. Die Teuerungsrate stieg auf 2,5 Prozent und damit zum ersten Mal seit 19 Monaten über die für Notenbanker kritische Marke von zwei Prozent. Nun werden auch die Währungshüter der Europäischen Zentralbank nervös.

Jetzt entspricht die offizielle Statistik der Lebenswirklichkeit vieler Menschen - zumindest ein wenig. Die Berliner Studentin Elisabeth Fleischhauer etwa achtet beim Obstkauf jetzt verstärkt auf Sonderangebote, "was ich sonst nicht mache", sagt die 24-Jährige. Wie sie leiden viele stärker unter den steigenden Preisen, als die Zahlen des Statistischen Bundesamtes glauben machen wollen. Beispiel Hartz IV: Bis September 2007 hat ein Empfänger mit einem Regelsatz von 347 Euro 16 Euro Kaufkraft verloren. Er konnte 4,6 Prozent weniger Waren und Dienstleistungen kaufen als im Januar 2004, als der Satz berechnet wurde.

"Für jemanden, der ohnehin knapp bei Kasse ist, ist das besonders schmerzhaft", sagt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, und fordert, den Regelsatz auf 364 Euro zu erhöhen. Künftig müsse Hartz IV an die Teuerung statt an die Renten gekoppelt werden.

Angelika Grözinger kann das nur unterschreiben. "Mit Hartz IV kann kaum jemand anständig eine Familie ernähren", sagt die Präsidentin des Deutschen Hausfrauenbundes. Schließlich seien mit Nudeln, Brot und Milch Güter des täglichen Bedarfs teurer geworden, die nicht zu ersetzen seien.

Doch Grözingers Mitleid hat Grenzen. Viele Familien, ob Hartz IV oder nicht, wirtschafteten völlig falsch. "Da wird wahnsinnig viel weggeschmissen", sagt die Expertin. Es fehlten alle Grundlagen der Haushaltsführung. Viele Kinder hätten noch nie gesehen, wie man Pellkartoffeln macht, und niemand erzähle ihnen, welche Lebensmittel besonders fett sind.

Rentner besonders stark betroffen
Schwer zu schaffen macht die Teuerung aber nicht nur den jungen Familien. Überproportional betroffen sind nach Brachingers Berechnungen auch weniger wohlhabende Rentner. In ihrem Budget haben Nahrungsmittel hohes Gewicht, und sie ersetzen bekannte Produkte nur zögerlich durch neue.

Brachinger hat auch einen "Rentner-Portemonnaie-Index" berechnet und für diesen die 50 meistgekauften Güter eines Haushalts mit zwei Rentnern und geringem Einkommen berücksichtigt. Von April 2006 bis August 2007 stiegen die Preise demnach um 2,6 Prozent - mehr als 40 Prozent stärker als der offizielle Verbraucherpreisindex.

Angst und bange wird inzwischen vielen Bürgen an der Supermarktkasse. Hans Wolfgang Brachinger hat genau nachgerechnet, warum. In seinem "Index der wahrgenommenen Inflation" (IWI) haben die Preise von besonders oft gekauften Gütern besonders großes Gewicht. Zudem sind Preissteigerungen höher gewichtet als Preissenkungen, da die Verbraucher sie psychologisch schmerzhafter wahrnehmen.

An Brachingers Zahlen lässt sich gut ablesen, wie sehr sich die offizielle Preisstatistik und die Wahrnehmung der Menschen auseinanderentwickeln. Seit Januar 2006 öffnet sich die Schere. Bis August 2007 stieg der IWI im Schnitt um 3,94 Prozent und damit mehr als doppelt so stark wie die offiziellen Preise. Im August 2007 lag die "gefühlte Inflation" bei 5,2 Prozent - mehr als zweieinhalbmal höher als die offizielle. Größer war die Kluft zwischen Bauchgefühl und offizieller Statistik nur nach der Euro-Einführung. Im Januar 2002 lag die "gefühlte Inflation" bei knapp elf Prozent, offiziell bei nur 2,2 Prozent.